PROLOG
Der Maihimmel hängt wie blassblaue Seide über dem
Albtrauf. Auf den Wiesen und Koppeln rings um die
Pferdeklinik glitzert der Tau in der aufgehenden Sonne. Der
neue Tag verspricht heiß zu werden.
Die junge Tierärztin Katja Stanbek war um vier Uhr früh
zum Bereitschaftsdienst gerufen worden. Die Notoperation des
Ponys verlief problemlos, das Tier lag bereits in einer Box der
Intensivstation. Spätestens heute Abend würde es wieder auf den
Beinen stehen.
Mit diesem beruhigenden Gedanken will Katja nach Hause
fahren, als ihr Handy klingelt. Sie versteht zuerst nicht, worum
es geht. Was will die Kriminalpolizei von ihr?
»Ja«, sagt Katja, »Anne Stanbek ist meine Mutter.« Sie
presst das Handy ein paar Minuten lang ans Ohr und hört angespannt
zu. Dann stammelt sie: »Aber wieso? – Warum ist meine
Mutter in Polizeigewahrsam?«
Nachdem sie eine weitere Minute gelauscht hat, ruft sie erschrocken:
»Was sagen Sie da? Mordverdacht?!«. Gleich darauf
wird ihre Stimme ratlos. »Das muss ein Irrtum sein«, sagt sie
leise. Und dann keucht sie: »Ich komme.«
Katja läuft im Sturmschritt über den Hof der Tierklinik, vorbei
an den Außenboxen und der Reithalle bis zum Parkplatz. Sie
verwirft den Gedanken, die drei Kilometer nach Kirchheim zu ihrer
Wohnung zu fahren, um eine Reisetasche zu packen. Morgen
ist Sonntag, denkt sie, und Montag werde ich schon zurück sein.
Überzeugt, dass sich das Ganze als Irrtum herausstellen wird,
steigt sie entschlossen in ihren VW Polo und macht sich auf die
weite Reise nach Jena in Thüringen. In die Stadt, in der ihre Mutter
in Polizeigewahrsam sitzt.
Bevor Katja die Autobahn erreicht, sieht sie von einer Anhöhe
aus am Horizont die Burg Teck. Ein paar Minuten lang denkt
Katja nicht mehr an ihre Mutter, sondern an die Landschaft,
die sich dort oben hinter dem 400 Meter hohen Bergkamm erstreckt:
an die Schwäbische Alb.
Katja ist in Stuttgart aufgewachsen und hat ihre Studienjahre
in München verbracht. Seit zwei Jahren lebt sie in Kirchheim
und sehnt sich nicht nach dem Großstadtleben. Sie hat dieses
Städtchen, das eingebettet ins Vorland des Albtraufs aus fernen
Höhen von der Burg Teck bewacht wird, ins Herz geschlossen. In
ihrer Freizeit lässt sich Katja von der Schwäbischen Alb verzaubern:
Erst allein, später mit ihrem Freund Ralf, den sie auf einer
ihrer Wanderungen kennengelernt hat, streift sie durch Dörfer
und kleine Städte, die verträumt zwischen Äckern, Wiesen und
Wäldern hocken; steigt auf Bergkegel zu Burgruinen, die von vergangenen
Zeiten erzählen; stapft durch Höhlen, in denen einst
Steinzeitmenschen lebten und bewundert unterirdische Labyrinthe,
die unzählige Tropfsteine in Feenpaläste verwandelt haben.
Im Sommer nach langen Wanderungen rasten Katja und Ralf
auf Wacholderheiden, sitzen zwischen Silberdisteln, Fingerkraut
und Enzian und schauen den Schäfern und ihren grasenden Herden
zu.
Katja liebt die Alb auch deswegen, weil in einem der kleinen
Dörfer das Geburtshaus ihrer Großmutter Charlotte steht.
Charlotte, die diese Heimat sehr jung verlassen musste und später
zum Mittelpunkt der Familie Stanbek geworden war.
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