Strahlenkinder
Strahlenkinder

 

2. Kapitel

Eine halbe Stunde später kam der Bus. Ein russisches Doppelstock-Ungetüm mit dem  ,Stuttgarter Rössle’ auf der Kühlerhaube. Die Seiten bedeckte ein Muster aus kyrillischer Schrift. Gastmutter Sandra konnte nur ГОМЕЛ und БЕЛАРУСЬ, Gomel und Weißrussland, übersetzten.
Die Kinder waren zwei Tage und zwei Nächte unterwegs gewesen und taumelten scheu und übermüdet auf den Parkplatz. Aber alle sahen aus, als ob sie kurz vorm Ziel noch frisch angezogen, gewaschen und gekämmt worden waren. Sandra musste schlucken, als sie die Kinder beobachtete, die Hilfe suchend umherblickten und wie einige, die ihre Gasteltern vom vergangenen Sommer entdeckt hatten, sich mit Freudenschreien auf sie stürzten. Sandra hoffte, dass Ralf nicht merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Aber er hatte sich schon zu den anderen Gasteltern gesellt, die von den russischen Reisebegleiterinnen Papiere ausgehändigt bekamen. Danach wurde das jeweilige Kind herbeigerufen und den Gasteltern übergeben.
Mindestens die Hälfte der sechzig Kinder standen noch in Grüppchen zwischen Taschen und Rucksäcken um den Bus herum: Teenies in Miniröcken kicherten nervös, kleine bezopfte Mädchen drängten sich zusammen wie verängstigte Schafe, aber auch die Jungs, darunter schon recht große Burschen, wirkten hilflos. Russisch, so fand Sandra, sahen die wenigsten aus, weder ihre Gesichtszüge noch ihre Kleidung. Nur dünn waren sie alle, dünn und blass, und manche so klein, dass sie viel jünger wirkten als sieben Jahre, dem Mindestalter mit dem die Kinder verschickt wurden. Sandras Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen. Welche sind nun meine?, dachte sie. Wer ist Andreij. Wer ist Dimitrij?
Sie hielt es nicht mehr aus, drängte sich zwischen das Kindergewusel und fragte auf gut Glück nach ihren Namen: „Tjebja sawut Andreij? Tjebja sawut Dimitrij?, Heißt du Andreij? Heißt du Dimitrij?“ Und plötzlich beim fünften oder sechsten Versuch, strahlte ein rundes Kindergesicht mit einer Stupsnase auf. Der Kleine flüsterte: „Menja sawut Andreij.“ Ein großer, schlanker Junge, der hinter Andreij Steinchen vom Gehweg gekickt hatte, musterte Sandra abschätzend mit stahlblauen Augen und sagte: „Dimitrij.“
Sandra stand ziemlich nervös neben den Jungs und schämte sich, weil ihr kein einziger russischer Satz einfiel, mit dem sie hätte erklären können, dass sie hier warten müssten, bis Ralf käme. So winkte in seine Richtung und schrie: „Ralf! Ralf! Ich hab sie gefunden.“
Statt Ralf kam Nina angerannt, die sich mit den russischen Teenies anscheinend bestens auf Englisch unterhalten hatte. „Hi, Boys!“, sagte sie und schüttelte jedem die Hand.