Wanjiko und die schwarzen Störche
Wanjiko

 

Prolog

Die Mountain Lodge liegt in den Bergwäldern von Kenia. Sie ist das sonderbarste Hotel, das man sich vorstellen kann. Wie ein großer Starenkasten sitzt es zwischen den Baumriesen des Regenwaldes. Alle Zimmern haben kleine Aussichtsbalkons mit Blick auf eine weite Lichtung, in deren Mitte die Wasserstelle glitzert, zu der die wilden Tiere zur Tränke kommen.
Jomo und ich verbrachten das Wochenende hier, denn Jomo wollte mir Afrika von seiner schönsten Seite zeigen.
Gestern, in der Abenddämmerung saßen wir auf unserem Balkon. Die Luft duftete nach Sommer, obwohl es November ist. Wir schauten einer Elefantenherde zu, die langsam und feierlich aus dem Dickicht schritt. Die Tiere bewegten sich im Gänsemarsch auf die Wasserstelle zu, lautlos, als gingen sie auf Watte. Von der anderen Seite wanderte eine Prozession Kaffernbüffel heran. Kolosse mit gekrümmten Hörnern, die abstehen wie lustige Zöpfe. Ich hob den Kopf, und in diesem Moment sah ich sie. Sie kreisten über dem Wald vor der Kulisse des Mount Kenya. Wie zwei schwebende Schatten.
"Schau, Jomo, die schwarzen Störche", flüsterte ich.
Jomo legte seinen Arm fester um mich: "Deine Störche", sagte er, "deine Traumstörche, Wanjiko!"
Es schien mir gut möglich zu sein, dass es ,meine’ Störche waren. Diese seltsamen Vögel, die ich jeden Herbst glühend beneidet hatte, wenn sie zu ihrer Reise in den Süden aufgebrochen waren. Mit denen ich im Traum nach Kenia geflogen war, in das Land, nach dem ich mich sehnte. Denn damals, als die Störche meine Freunde wurden und mir halfen, eine schlimme Zeit zu überstehen, lebte ich noch in Deutschland.
Jomo und ich schwiegen und schauten den Störchen nach. Als sie in der Ferne verschwunden waren, sagte Jomo: "Du hast versprochen, diesen Traum aufzuschreiben. Hier wäre der richtige Ort, an dem du das tun könntest."
"Ja", sagte ich, "mir scheint, es gibt keinen friedlicheren Platz auf der ganzen Welt. Aber ich möchte alles aufschreiben, denn zu den schwarzen Störchen und dem Traum gehört auch mein ganzes Leben."
"Bleib noch eine Weile hier. Es wird dir gut tun, dir alles von der Seele zu schreiben. Wenn ich dich in ein paar Tagen abhole, hast du deine 'Memoiren' fertig. Die Memoiren einer Neunzehnjährigen! Was meinst du, Wanjiko, wie lange wirst du brauchen?"
"Drei Tage", sagte ich. "In drei Tagen und drei Nächten werde ich es schaffen. Ich glaube nicht, dass ich es länger ohne dich aushalte."
"Also abgemacht, drei Tage", lachte Jomo, zog mich an sich und gab mir einen seiner kleinen Tupferküsse auf die Nasenspitze.
Heute in aller Frühe ist Jomo abgereist. Ich sitze auf dem Balkon und sehe den Neliongipfel des Mount Kenya aus dem Morgendunst tauchen. Er trägt ein weiße Haube. Schnee in Afrika!
Die Lichtung ist verlassen, nur eine Gazelle tritt vorsichtig aus dem Wald. Sie bleibt stehen und äugt aus dem dichten Unterholz, wachsam und still, bevor sie sich herauswagt. Aus dem Regenwald schallen vereinzelt Tierschreie, manche schmelzen wie Panflöten, manche knarren wie verrostete Türangeln.
Vor mir, auf einem kleinen Klapptisch, habe ich ein dickes Schreibheft und meine Füller zurechtgelegt. Noch einmal schaue ich über die Lichtung, von der sich die Schatten zurückziehen, dann setze ich in Druckbuchstaben die Überschrift auf das erste Blatt: "Die schwarzen Störche".

 

 

Ein Kind mit Schokoladenhaut

Ich wurde in Deutschland geboren. Meine Kindheit verlebte ich in einem kleinen Dorf, das zwischen bewaldeten Hügeln in einem Flusstal liegt.
Niemals ist mir als Kind in den Sinn gekommen, dass ich anders war als die Leute im Dorf. Nie fragte mich jemand, warum ich Wanjiko hieß und nicht Lisa, Daniela oder Anja. Auch Bemerkungen über meine dunkle Haut und das Kraushaar auf meinem Kopf habe ich nie gehört. Nur manchmal legte sich eine Hand darauf, um neugierig und liebevoll durch das wollige Gekräusel zu fahren. Jeder im Dorf wusste ja, dass mein Vater schwarz ist.
Meine Mutter stammte aus Norddeutschland. Ihre Haare waren blond und glatt. Sie reichten ihr bis über die Schultern, und wenn sie ihr in die Stirn fielen, warf sie die vorwitzigen Strähnen mit einem kleinen, anmutigen Schwung zurück und klemmte sie hinter die Ohren. Durch Mama hatte ich hellere Haut als Vater – einen Braunton, wie ihn Europäer nur unter südlicher Sonne erlangen. Im Sommer, wenn ich mich viel im Freien aufhielt, bekam meine Haut die Farbe von Milchschokolade. [ . . . ]
Mein Vater war Arzt und arbeitete in der Stadt in einem Krankenhaus. Auch im Dorf ließ man ihn zu Kranken rufen. Die Leute sagten, er hätte heilende Hände. Wenn ich auf Vaters braune, langgliedrige Finger mit den perlmuttschimmernden Nägeln schaute, glaubte ich ohne Bedenken, dass diese Hände jedes Leid heilen konnten. [ . . . ]
Als ich älter war und in der nahen Stadt ins Gymnasium ging, kam an schulfreien Nachmittagen Lisa mit dem Fahrrad herüber ins Dorf. Manchmal kam auch Felix mit, seinen Fußball auf dem Gepäckträger und seine Gitarre wie einen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Felix war nicht nur Fußballfan und ein guter Gitarrenspieler, sondern er hatte auch prima Ideen. Zum Beispiel den Einfall, ein Baumhaus in der dicken Kastanie zu bauen. Aber wenn uns mein Vater nicht geholfen hätte, wäre es wohl nie fertig geworden. In diesen Sommer verbrachten wir unsere freie Zeit fast ausschließlich zwischen den Kastanienästen. Wir quatschten oder hörten den Vögeln und Felix' Gitarre zu.
Manchmal kam Vater zu uns heraufgeklettert, machte es sich auf einem Ast bequem, baumelte mit den Beinen wie wir und erzählte von Afrika. Von Regenwäldern und Savannen, von Melonen- und Affenbrotbäumen, von Löwen und Stachelschweinen, Giraffen- und Zebraherden.
Und Vater erzählte auch von meiner Großmutter, die dort in diesem geheimnisvollen Land lebte, zwar nicht im Busch oder in den Savannen, aber in der Nähe einer Stadt, die Nyeri heißt. Nyeri liegt zwischen den Aberdare-Bergen und den Hängen des Mount Kenya. Diese Gegend wird das ,Weiße Hochland’ genannt.
„Wanjikos Großmutter“, sagte Vater, „ist eine Afrikanerin vom Volk der Kikuyu. Von ihr hat Wanjiko die schwarze Wolle auf ihrem Kopf geerbt.“