Die unsichtbare Wilhelmine
Die unsichtbare Wilhelmine

 

2. Kapitel

Wilhelmine hängt über meinem Bett. Sie steht in einem großen altmodischen Goldrahmen. Ihr weißes Kleid ist mit hellblauen Pünktchen gesprenkelt, die jetzt im Mondlicht wie Fliegenkacke aussahen. Um Wilhelmines Hals kräuselt sich Rüschenzeugs, Volants, oder wie man das nennt, und am Rock schlabbern nochmals zwei übereinanderhängende Rüschen. Ihre Augen sind braun wie Kastanien und schauten mich geradewegs an.
Ich hatte Wilhelmine noch nie so genau angesehen wie heute im Mondschein, und plötzlich fiel mir die Ähnlichkeit mit Andrea auf. Wenn diese Wilhelmine etwas Gescheites anhätte, Jeans und ein flottes T-Shirt, dachte ich, wäre sie fast so hübsch wie Andrea. Solche Kastanienaugen hat Andrea auch, und die Haarfarbe ist auch gleich: rotbraun wie das Fell von Eichhörnchen. Und dieses verschmitzte Lachen in den Mundwinkeln ist . . .
Ich starrte hinauf zu Wilhelmine und glaubte, die Augen schwammen mir noch von der blöden Heulerei. Aber wie ich auch herumwischte, Wilhelmine hatte die Lippen breitgezogen und grinste mich an.
„He“, sagte ich und spürte ein zartes Gruseln, „was ist denn mit dir los? Was machst du denn da?“
Wilhelmine grinste noch breiter und flüsterte: „Mir ist langweilig!“ Sie trippelte mit ihren Schnürstiefeln auf der Stelle, als wären ihr die Füße eingeschlafen. Dann ging sie in die Hocke und hopste über mein Bett auf den Teppich. Ich hielt vor Schreck die Luft an, weil ich einen lauten Rums erwartete, aber Wilhelmine landete sanft und geräuschlos wie ein Schmetterling. Sie wedelte ihre Rüschen glatt und setzte sich neben mich aufs Bett.
„Pardon“, lachte sie, „da staunst du, was?“ Ihre Stimme klang wie das silberne Glöckchen, das Weihnachten an Nickchens Christbaum hängt.
„Ja, sag mal . . .“, stotterte ich, „wa-was ist denn j-j-jetzt passiert?“
„Du glotzt wie ein Kälbchen, wenn’s gewittert“, kicherte Wilhelmine. Sie baumelte mit den Beinen, und mein Bett schwankte wie eine Hängematte. „Nichts ist passiert, mon petit, ich konnte das nur nicht mehr mit ansehen, wie du hier liegst und traurig bist. Ich bin zwar auch manchmal traurig, aber schließlich hatte ich ja meinen Spaß schon vor hundert Jahren.“
„Vor hundert Jahren?“
„Voilà“, sagte sie. „Ist doch logisch, schließlich bin ich deine Urgroßtante.“
„Aber du kannst doch nicht einfach aus deinem Bild hopsen. Hast du das schon öfters gemacht?“
„Nöö, es ist das erste Mal. Aber man wird doch in hundert Jahren mal aus den Rahmen fallen dürfen? Heute habe ich eben eine Ausnahme gemacht – für dich.“